60 Jahre Mattmark-Unglück: Ein Zeitzeuge und viele Schicksale

Vor 60 Jahren, am 30. August 1965, ereignete sich bei Mattmark im hinteren Saastal eine fatale Natur­katastrophe: Ein Eisabbruch vom Allalingletscher begrub 88 Menschen auf dem Baugelände beim Mattmark-Staudamm (Box). Der damals 17-jährige Stefan Andenmatten war im Gebiet als Schafhirte unterwegs, er entkam dem Unglück mit viel Glück. – Besuch bei einem Zeitzeugen, mit dem es das Schicksal immer wieder gut meint.

Eine Reportage aus dem Ursprungsgebiet von Wallisgletscher und Allalin-Gabbro von Peter Thomet, Alain Boillat (Fotos) und Urs Wehrli (Text).

Was heisst hier Schicksal? Der Begriff wird gerne herangezogen, wenn bedeutende Lebensereignisse rational schwierig einzuordnen sind. KI definiert Schicksal, als «die Gesamtheit von Ereignissen, die das Leben eines Menschen entscheidend prägen und als fremdbestimmt empfunden werden». Der heute 77-jährige Stefan Andenmatten aus Saas-Almagell ist ein intelligenter Mann. Er weiss auch ohne KI, dass sein Schicksal auf besondere Weise mit dem Mattmarkgebiet und dem Saastal ver­bunden ist, wo er etliche weitere Ereignisse erlebt und überlebt hat. Letztmals im Juni dieses Jahres, als er seinen vierten Herzinfarkt erlitt. Andenmatten erinnert sich an alles und erzählt detailliert.

Stefan Andenmatten, im Hintergrund das Vorfeld des Allalingletschers, wo das Eis herabstürzte. (Foto A. Boillat)

Blau zur Welt gekommen

Bereits bei der Geburt, im Sommer 1948, stand sein Leben auf des Messers Schneide. Die Familie
Andenmatten lebte am Existenzminimum. Um ein Einkommen zu generieren, war der Vater monate­lang in der ganzen Schweiz als Akkord-Mauer auf Strassenbaustellen unterwegs, wie viele andere
Saaser Männer auch. Zuhause im Tal betrieben die Frauen derweilen einfache Alpwirtschaft und sorgten sich um die Kinder. Stefan Andenmattens Grossmutter Magdalena war eine zähe, fleissige Älplerin, die 11 Jahre im italienischen Macugnaga am Fusse des Monte Rosa aufgewachsen ist, weil ihr Vater da in den Goldminen gearbeitet hat. (Viele Geschichten aus dem Saastal haben Migrationshintergrund.) In diesem Sommer war sie auf der Distelalp beim damaligen, noch nicht gestauten, Mattmarkseeli stationiert. Dort stattete ihr, die mit Stefan hochschwangere Mutter Ida einen Besuch ab. Viele Tage zu früh und zuhinterst im Tal setzten am 5. September über­raschend die Wehen ein. Die Situation war brenzlig. Ein Sohn wird losgeschickt, um Ambrosia, die Hebamme in Saas-Fee zu alarmieren. Der Mutter blieb nichts anderes übrig, als unverzüglich zu Fuss den Weg nach Hause in Richtung Almagell anzutreten. Unterwegs erlitt sie dann allerdings einen Blutsturz – es kam zur hochriskanten Spontangeburt in der freien Natur, zwischen Mattmark und Almagell. Der kleine Stefan kommt wegen dem Sauerstoffmangel tiefblau zu Welt und er wäre bei­nahe gestorben, wäre Ambrosia nicht noch just rechtzeitig herbeigeeilt, um ihm und der Mutter das Leben zu retten.
Fazit: Stefan Andenmatten erblickt das Licht der Welt, unweit vom Allalingletscher, wo er später noch so viel erleben sollte.

Hirtenjunge im Mattmark

Als mit Abstand jüngstes von vier Kindern, erlebt Stefan die Mühen und Nöte der Alpwirtschaft von Kindsbeinen an. Unter anderem hütet die Familie Andenmatten die Schafherde der Dorfgemein­schaft; die Beweidung erfolgt halb-nomadisch und nach ausgeklügelten Regelungen in der Talschaft. Stefan muss schon als kleiner Junge Verantwortung übernehmen und die umherziehenden Schafe hüten. Bereits als 7-jähriger muss er eine ganze Woche mit anderen Hirten draussen bei den Schafen übernachten, was ihn auch rückblickend noch bedenklich dünkt, denn er trennte sich jeweils nur ungern und «laut weinend» vom vertrauten Elternhaus. Auch als er zur Schule geht, verbringt er im Sommer jede freie Minute im Mattmarkgebiet und kennt bald jeden Stock und Stein.


Schafe und Hirte auf Abwegen

Mit 12 Jahren geht Stefan ins katholische Kollegium Spiritus Sanctus in Brig zur Schule, er ist dort Wochenaufenthalter. Die Sommerferien verbringt er zuhause in Saas-Almagell, wo seine Arbeitskraft immer gebraucht wird, auch am 30. August 1965. Ein halbes Dutzend Schafe ist ausgebüxt, an eine begrünte Bergflanke in Richtung Hinter-Allalin. (Übrigens just neben der Moräne, wo weltweit die schönsten Smaragdite dicht an dicht liegen.) Stefan erhält vom Vater den Auftrag, die Schafe zur Herde zurückzutreiben, die inzwischen auf der anderen Talseite in Richtung Distelalp unterwegs ist. Eine Tagestour. Nach einem beschwerlichen Fussmarsch und vielen Höhenmetern kann der Jüngling die Schafe hoch über dem Gletscher aufspüren und sie talwärts vor sich hertreiben. Vor der Matt­mark-Baustelle biegen die Schafe aber spontan ab und durchqueren das felsige Gebiet unterhalb der Gletscherzunge. Unter normalen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit, weil da reissende Schmelz­wasserbäche zu Tal stürzen. An diesem Nachmittag fliesst indessen fast kein Wasser aus dem Glet-scher – was eigentlich als ein Zeichen (!) für die bevorstehende Naturkatstrophe hätte gedeutet werden können. Auch Stefan quert das steile Gletschervorfeld und muss dann feststellen, dass die Schafe auf der anderen Seite des Gletschers schon wieder uneinholbar den Hang hochgeklettert waren. Gegen Abend beschliesst er, den Job für diesen Tag abzubrechen und auf dem Heimweg in der Kantine der Mattmarkbaustelle noch etwas trinken zu gehen.

Schicksalhafte Momente

Hermann Anthamatten, Chauffeur, damals 40-jährig, stand am 30. August um 17 Uhr mit seinem Postauto an der Endstation bei der Baustelle Mattmark. Er fing Stefan Andenmatten vor den Baracken ab und bot an, ihn mit dem nächsten Kurs ins Dorf runter mitzunehmen. Stefan nahm gerne an und man fuhr los, in mehreren Kurven talwärts an den Baracken der Baustellen vorbei, wo alsbald das bergwärts fahrende Postauto gekreuzt wurde. Wenige Momente danach krachte und windete es. Tonnen von Eis stürzten unmittelbar hinter ihnen ins Tal und begruben die gesamte Barackenanlage mitsamt Bulldozern, Baumaschinen und der Arbeiterschaft. 88 Menschen wurden auf einen Schlag getötet. Der schlimmste Unfall auf einer Schweizer Baustelle. Das Postauto mit Stefan Andenmatten entging der Katastrophe unversehrt, nur um Sekunden. Das bergwärts fahrende Postauto wurde am Heck erwischt, aber niemand wurde verletzt. Die Männer und zwei Frauen im Bereich der Baracken hatten indessen keine Chance, der Eislawine zu entkommen. Der Verlust ihrer Liebsten und Ernährer hatte für unzählige Familien dramatische Folgen. Schwere Schicksale, denen bis heute gedacht wird.
Stefan und Hermann jedoch hatten das Glück ihres Lebens. Noch während Jahren kehrten sie jeweils an den Ort zurück, um in Demut ihren «2. Geburtstag» zu feiern. Hier im Mattmarkgebiet, wo Stefan schon bei der Geburt beinahe gestorben wäre, hätte ihn das Eis am Unglückstag oben am Gletscher erwischen können oder später unten in der Arbeiterkantine.

Gedenkausstellung in Saas-Grund; die Trauernde könnte Andenmattens Grossmutter sein. (Foto A. Boillat)

Ein Leben mit Hals-, Bein- und Knochenbruch

Mit bald 77 Jahren, 60 Jahre nach dem verrückten Unglück, schaut Stefan Andenmatten auf ein über-aus glückliches, erfülltes Leben als Familienvater zweier Kinder und vier Enkelkinder zurück – und auf eine erfolgreiche Karriere in Beruf und Politik. Andenmatten ging an die ETH, wurde Kulturingenieur mit eigenem Büro und war als patentierter Grundbuchgeometer im ganzen Oberwallis unterwegs. Er sass für die CSPO im Walliser Grossrat und engagiert sich bis heute in ver­schiedenen Vereinen für seine Heimat.
Seine wohl grösste Leidenschaft ist das Skifahren: Andenmatten war jahrelang auf verschiedenen Stufen als Ski-Trainer aktiv und bis vor Kurzem noch als Skilehrer unterwegs. Unter anderem erinnert er sich noch gut, als einer der ersten Trainer, den jungen Pirmin Zurbriggen aus der Almageller Nach­barschaft trainiert zu haben.

Noch einmal Glück gehabt

Und zurück zum Schicksal als Gesamtheit von einschneidenden Ereignissen im Leben: Andenmatten fordert solche auch heraus. Er bezeichnet sich selbst als «extremen Draufgänger» beim Skifahren. Über die Jahre habe er sich von Kopf bis Fuss so ziemlich «jeden Knochen gebrochen, den man brechen kann». Und bei einer Routineuntersuchung am Herzen wurde es nochmals lebensgefährlich: es passierte ein kleines Malheur mit den Gerätschaften, der Patient wurde ins Koma versetzt und überlebt nur, weil zufällig ein absoluter Spezialist für derart seltene Zwischenfälle zum Ärzteteam stiess. Stefan kennt die Walliser Spitäler bald so gut, wie das Mattmarkgebiet. Dem Teufel will er noch ein paarmal von der Schippe springen, am liebsten auf den Skiern, wie er augenzwinkernd bemerkt – und er wird sich weiter für das Mattmarkgebiet und die Erinnerung an die tragischen Ereignisse enga­gieren.

Das Unglück von Mattmark

Im Rahmen eines grossen Wasserkraft-Projektes im Saastal baute die Kraftwerke Mattmark AG zwischen 1960 und 1967 im Mattmarkgebiet oberhalb von Saas-Almagell den grössten aufgeschüt­teten Staudamm Europas. Ein Teil der Baustelle und die zugehörigen Baracken wurden im Tal, just unterhalb des Allalingletschers installiert. Am 30. August 1965 ereignete sich dort ein riesiger Gletscher­abbruch; rund 2 Millionen Kubikmeter Eis und Geröll begruben das Gelände innert Sekunden unter sich. 88 Menschen wurden getötet, 56 davon waren italienische Gastarbeiter. Schwere Schicksale für Angehörige und Waisen waren die Folge. Über die Voraussehbarkeit und die Verantwortlichkeiten des Unglücks wird bis heute diskutiert. Am 30. August 2025 jährt sich das schlimme Ereignis zum 60zigsten Mal.

Gedenkstätte am Ort der Unglücksstelle bei Mattmark. (Foto A. Boillat)

Ein Verein erzählt die Landschaft

Der Verein Landschafts- und Kulturerbe Drei-Seen-Land LED-P3L beschäftigt sich mit unserer Land­schaftsgeschichte, namentlich seit dem letzten Gletschervorstoss aus dem Wallis. Das Leitgestein zur Erklärung der Vereisung, ein Smaragdit (Allalin Gabbro), stammt ausgerechnet aus dem Allalin/Mattmark-Gebiet im hinteren Saastal. Der Verein pflegt deshalb gute Kontakte ins Saastal, unter anderem zur dortigen Stiftung «Saas ischi Heimat». Deren Präsident ist Stefan Andenmatten, der hier porträtierte Zeitzeuge der Katastrophe von Mattmark 1965. Drei Seeländer haben ihn vor Ort besucht, befragt und fotografiert.

Die Reportage des Vereins LED-P3L darf (mit Quellenangabe) kopiert, verlinkt und weitererzählt werden. Die Reporter sind Peter Thomet, Alain Boillat (Fotos) und Urs Wehrli (Text).

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Weitere Bilder von Alain Boillat: